Recklinghäuser Nachrichten
18. 5. 1993
Erst die Folter, dann das
Asyl
Premiere in Bochum: Bettina Fless´
Sozialdrama "Asyl in der ersten Weit"
Von Heike Kruschinski
"Zu Hause war ich ein
Mensch und hatte eine Geschichte. Hier bin ich ein Formular.` Als Ajagunla
Babatunie Benson diese Worte spricht, ist er bereits einmal gestorben. Im ersten
Akt von Bettina Fless' Drama "Asyl in der ersten Welt" wurde der Mann
aus Nigeria von Hubert, der eigentlich Kemal heißt, erschlagen.
Aber da Ajagunla Babatunle
Benson mit zwei Pässen nach Deutschland gereist ist, muß er noch ein zweites
Mal getötet werden. Doppelt hält besser. Bettina Fless, die ihr Stück selbst
in den Bochumer Kammerspielen inszeniert hat, ist meilenweit von dem
Sozialmelodram entfernt, das bei diesem Thema so naheliegend erscheint. Mit
Sarkasmus zeichnet sie ihr Bild vom "goldenen Westen". Eine
schmutzig-dunkle Wand mit Schließfächern: das ist das "Hotel
Deutschland" - in irgendeinem Hauptbahnhof, die Kehrseite des Reichtums,
die Welt der Penner und Poeten. Martin (Lothar Kompenhans) schreitet mit
Dichterkranz und langem Mantel durch die triste Halle, ganz das verkannte Genie.
Dann ist da noch Klaus (Manfred Böll) in einer verschlissenen Uniform. Er
betrinkt sich, weil er nicht verwinden kann, daß sein Vater, der tapfere
SS-Mann, Flüchtlinge hat laufen lassen und dafür standrechtlich erschossen
worden ist. Im dritten Schließfach wohnt Rosi (Juliane Koren), ebenfalls
Alkoholikerin und Schlampe.
An einem Rosenmontag trifft
Ajagulana Babatunle Benson (großartig: Jubriel Sulaimon!) auf dem Hauptbahnhof
ein. Mit einem gefälschten Paß ist er aus Nigeria geflüchtet, weil er dort zu
einem politisch aktiven Studentenclub gehörte und Repressalien befürchtete.
Mit ihm trifft Elisabeth (Katharina Linder) im "Hotel Deutschland"
ein: Die arbeitslose Geisteswissenschaftlerin hat ihr letztes Geld für die
Bahnfahrt hierher ausgegeben. Jetzt ist Endstation. In der Plastiktüte, die
ihre gesamte Habe enthält, befinden sich ein Strick und Medikamente.
Elisabeth übernimmt in der
kleinen Underground-Gesellseliaft die Rolle der Intellektuellen., die so sehr
mit sich selbst beschäftigt ist, daß sie nicht bemerkt, was um sie herum
geschieht. Komplettiert wird die Gruppe von einem Wirtschaftsbonzen und seiner
Gattin, die das illustre Bahnhofsmilieu der Rotary-Feier vorziehen. Ein verhängnisvolles
Spiel beginnt. Die gelangweilte Reiche-Leute-Ehefrau versucht, mit dem
attraktiven Afrikaner zu flirten. Benson, der bereits seine ersten Lektionen im
Umgang mit Weißen gelernt hat, gibt sich zurückhaltend. Aber auch damit verhält
er sich falsch. Die zunehmend alkoholisierten Obdachlosen und Seßhaften wollen
schließlich ihren Spaß haben. Also tauchen sie Bensons Kopf immer wieder in
einen Eimer Wasser. Am Ende aber ist es ausgerechnet Hubert, der türkische
Chauffeur, der dem Nigerianer den tödlichen Schlag versetzt. Auch Elisabeth,
die all dem gleichgültig zuschaut, wird wenige Momente später von Rosi getötet,
weit sie ihre Schuhe nicht hergeben will.
Nach diesem furiosen ersten Akt
nimmt das Stück nach der Pause recht absurde Züge an. Benson teilt sich nun
mit drei anderen Afrikanern ein Zimmer in einem Asylbewerberheim. Hier erscheint
ihm Elisabeth als verschleierter Geist im weißen Gewand, um ihn um Verzeihung
zu bitten. Bevor Benson zum zweiten Male - diesmal durch eine Brandbombe -getötet
wird, hat sich Elisabeth längst wieder ins sichere Totenreich zurückgezogen.
Die überzeugendste Szene im
zweiten Akt ist die Anhörung im Asylverfahren. Der Entscheider und die
Sozialarbeiterin sitzen in einem Schlauchboot, das sie gegen den schwarzen
Eindringling mit allen Mitteln verteidigen. Beide Amtspersonen sind als
Karikatur angelegt: Die Sozialarbeiterin übersetzt die Rechtsbelehrung allzu wörtlich
ins Englische, und auch der Entscheider ist mit seinem dummdreisten Amtsgehabe
eine Witzfigur. Dennoch: Soweit ist dies alles von der Wirklichkeit nicht
entfernt. Daß Benson aus Angst vor dem Gefängnis geflohen ist, kann der
Entscheider nicht als Grund gelten lassen. Da müssen schon die Regeln
eingehalten werden: Erst die Folter, dann das Asyl.
"Ich weiß nicht, was
schlimmer ist. Das hier oder das Gefängnis", fragt sich Benson an einer
Stelle. Bittere Ironie: das Gefängnis hätte er vielleicht überlebt. In
Deutschland stirbt er gleich zweimal. Frenetischer Beifall und Bravo-Rufe für
Bettina Fless. Immerhin hat sie bewiesen, daß gutes, sozialkritisches Theater
auch heute noch möglich ist.