tageszeitung - taz
von Susanne Raubold
Schöne Sprache, große Gefühle
Umjubelte Wiederentdeckung: Bettina Fless besinnt sich in
ihrer "Minna von Barnhelm" Inszenierung im Theater am
Goetheplatz auf vergangene Tugenden
Was für eine Überraschung! 230 Jahren nach dem Entstehen
wurde im Theater am Goetheplatz ein Stück neu entdeckt. Gotthold Ephraim
Lessings "Minna von Barnhelm", der Klassiker des Deutschaufsatzes,
das abgegriffenste der gelben Reclam‑Heftchen im Regal erweist sich als
wahres Kleinod. Lessings alter Text um preussische Soldatenehre und die
couragierte Liebe des Fräulein von Barnhelm kommt in Bettina Fless Inszenierung
daher, als sei er eben erst geschrieben worden.
Wenn Minna von Barnhelm auszieht, ihren verlorenen Verlobten
Major von Tellheim zurück zu erobern, beginnt eine überaus Spannende Prozedur.
Bevor sie ihn im Laufe des Abends mit hochnotpeinlichen Befragungen, eine
kleinen Notlage und den vertauschten Verlobungsringen zurückgewinnt, gilt es
sich zu wappnen. Während die Kammerzofe Franziska dem Fräulein Minna von
Barnhelm hilft Strümpfe Strumpfbänder, Korsage und Reifröcke anzulegen,
bewaffnet sich der weibliche Leib immer mehr mit den Zeichen des 18.
Jahrhunderts. Weiblichkeit wird mit größter Perfektion inszeniert. Schmale
Mieder pressen die Brüste ins Dekollete; weit ausladende Reifröcke betonen das
Becken. Kaum stehen Minna und ihr Kammerfräulein fertig angekleidet auf der
Bühne, suggeriert die Faszination ihrer Präsenz den weiteren Verlauf der
Handlung im Dilemma zwischen Lust und Pflicht.
Das alles vor einem äußerst sparsamen Bühnenbild aus
verschiebaren Wänden in klarem preußischen Blau. Gerade mal ein paar Stühle
stehen herum und warten auf Besucher. Umso prunkvoller die großen Roben der
Damen die in sattem Orange und warmen Gelbtönen die Komplementärfarben des
Bühnenhintergrundes aufnehmen und erst so selbst zu leuchten beginnen. Und je
historischer die Kostüme sind, desto erstaunter ist man über den Gehalt der
Rede: offenherzige Frauengespräche über die Liebe. Denn was Minna der Freundin
da über ihre unglückliche Liebe zum verschollenen Major Tellheim gesieht, das
konnte auch heute zwischen vertrauten Freundinnen geplaudert werden.
Regisseurin Bettina Fless weiß, was sie tut: "Den
Zauber der Sprache wiederzuentdecken und Bühne in diesem Sinne als
Sprechtheater zu sehen, das genau hat mich interessiert", sagte sie zur
Absicht ihrer Arbeit. Durch genaue Lektüre fördert sie aus dem scheinbar
bekannten Stück Überraschendes zutage: eine ewig gültige Thematik, starke
Frauenrollen, große Gefühle und vor allen Dingen Lessings schöne Sprache.
Bettina Fless enthält sich vollständig der gegenwärtigen
Mode, das Stück gegen den Strich zu lesen und durch ironische Brüche zu
dekonstruieren. Auch offensichtliche Aktualisierungen sind nicht untergebracht.
Hier stehen keine Fernseher oder Videoinstallationen auf der Bühne herum. Die
Inszenierung wagt einen historischen Bezug in einer fast perfektionistischen
Rückwendung ins 18. Jahrhundert. Mutig stellt sich die Regisseurin der Große
des Stücks. Auch scheint sie keinerlei Angst vor dem Pathos zu haben. Daß Minna
von Barnhelm hier um ihre große Liebe kämpft, alles einsetzt. um den
verstockten Tellheim aus seinen männlich-preussischen Ehrbegriffen zu befreien,
daran ist ihr absolut nichts peinlich.
Das ist erstaunlich, denn sich nach über zweihundert Jahren
auf Lessings Begriffe von Liebe und Ehre einzulassen, könnte altmodisch oder
verstaubt wirken. Schließlich werden hier Menschen gezeigt, denen es furchtbar
ernst ist. Die kein "irgendwie" oder "vielleicht"
durchgehen lassen. Aber Lessings Dialogführung hat keine Ähnlichkeit mit einem
trockenem Traktat. Die Sprache verfügt über sinnliche Kraft, fügt sich in
langen, eleganten Bögen und einem Satzbau, der die Hoffnung aufrecht erhält,
daß auch Kompliziertes einfach zu sagen ist.
Nach überaus intelligenten Schachzügen, mit denen Minna sich
zu erklären versucht, warum denn der Major von Tellheim nun so unnahbar wirkt, kommt sie zum Punkt: "Liebst du mich
noch, ja oder nein? ‑ "Ja. noch." ‑ "Gut, das ist
vorerst alles was ich wissen muß." Und ihre Frage konnte auch heute
gestellt werden, oder muß es wohl möglich auch noch morgen. Wie aber wäre es
besser zu sagen?
Daß das Konzept der Inszenierung aufgeht hat die Regisseurin
ihren Schauspielern zu danken. Irene Kleinschmidt spielt ihre Minna als eine
starke und selbstständige Frau, die bei ihrem Unterfangen, dem verlorenen
Geliebten nachzureisen, nicht nur die Würde bewahrt, sondern auch charmant sein
kann. Das Ganze gelingt ihr mit solch einer Leichtigkeit und Identifikation mit
der Rolle, daß ihre Minna im Heute zu leben scheint.
Ihre zuerst fast zufällig wirkenden komischen Seiten gewinnt
die Aufführung dann durch die Rollen der Bedienten und Freunde, allen voran:
die Kammerzofe Franziska. Während der letzten Redeschlacht zwischen dem Major
und Minna, als diese sich vollends in ihren eigenen Fallstricke zu verheddem
droht, sitzt Gabriele Maria Schmeide als "Frauenzimmerchen" auf einem
Stuhl an der Wand im Hintergrund. Die Hauptakteure ergehen sich in pathetischer
Ernsthaftigkeit, sie kommentiert das Geschehen. Wie eine Stummfilmdarstellerin,
der das Sprechen verboten bleibt, windet sie sich in expressiven Gesten. Ohne
Worte bringt sie auf den Punkt, was man im Zuschauerraum gerade denkt. Und
provoziert nicht endendes Gelächter.
Als sich der Vorhang nach überaus kurzweiligen drei Stunden
senkt, brandet enthusiastischer Beifall auf. Je länger er dauert, gilt er nicht
nur dieser einen Inszenierung: Hier wird auch der Arbeit des Intendanten
applaudiert, die solch einen Abend erst möglich gemacht hat.